Soziokulturelle und politische Tätigkeiten



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BRUNO KAMMERER

Lenin, ein Hotspot für Zürich


Täglich pilgern sie in Gruppen hinter den Fähnchen ihrer Reiseleiter in Zürich an die Spiegelgasse 14, Touristen aus allen Herren Ländern. Heute ermuntert durch Informationen in internationalen Reisekatalogen und einschlägigen Zeitschriften, dass in dieser Stadt vor über 100 Jahren Weltgeschichte geschrieben wurde. Hoch oben am Haus erinnert eine Tafel, dass hier der russische Revolutionär Lenin mit seiner Ehefrau Krupskaja in der Familie des Schuhmachers Titus Kammerer gewohnt und gearbeitet hat (1916/1917). Doch vermittelt die Tafel unrichtige Informationen, ist falsch plaziert und frustriert die Gäste, weil sie keine von den heute beliebten Erinnerungs-Selfies zulässt.

Die nächste Lenin-Station in Zürich ist das Haus des Theaters Neumarkt, wo Lenin im „Deutschen Bildungsverein Eintracht“ jeden Tag die Zeitungen konsultierte und an politischen Versammlungen teilnahm. Weiter geht es im Quartier an den Predigerplatz zum „Schwänli“, dem Ort der konspirativ-getarnten Sitzungen mit den Zürcher Jungburschen und Jungmädels. In der nahegelegenen Zentralbibliothek studierte Lenin tagsüber in Büchern. In der Nähe befand sich damals auch das Schweizer Sozialarchiv, von Lenin intensiv für seine Arbeiten benützt. An beiden Orten sind Lenins Ausleihescheine auch heute noch einsehbar.

An der Zähringerstrasse steht die Reisegruppe vor dem Haus des ehemaligen Hotels „Zähringer“, in dem sich die rund 42 Revolutionäre 1917 zur Fahrt mit dem legendären geheimen Zugwagen nach Russland zusammenfanden. Doch die Gäste von heute in Zürich fahren anschliessend mit den VBZ in der Stadtkreis 4, wo Lenin an der Zwinglistrasse in der Bäckerei Epstein das von ihm bevorzugte ungesäuerte Brot einkaufte. Das Joghurt, welches vom Lenins Mit-Revolutionär Paul Axelrod aus Russland in die Schweiz eingeführt worden ist, wurde an der Feldstrasse produziert. Hier grüsst auch von ennet dem Seebahngraben die ehemalige „Proletarische Jugend“, von Jungburschen aus dem Umfeld von Lenin gegründet und ein Hort der Zimmerwalder Linken. Im Volkshaus verlustiert sich die Lenin-Reisegruppe bei Koni Freis „Hacktätschli“. In diesem Haus nahm Lenin als Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Zürich regelmässig an deren Versammlungen teil und hat dabei zwei Grundsatzreferate gehalten. Auch hier gibt es dazu eine Erinnerungstafel, auch diese mit unrichtigen Informationen und im falschen Raum.

Zum 100. Geburtstag von Lenin im Jahr 1970 veranstaltete die Stadt Zürich im Helmhaus eine grosse Ausstellung „Lenin in der Schweiz“. Gleichzeitig konnte die Stadt das Haus Spiegelgasse 14 zu günstigen Bedingungen käuflich erwerben. Doch noch herrschte der Kalte Krieg und der freisinnige Rechtsanwalt Dr. Walter Guex verhinderte diesen Kauf mit seiner Anfrage im Gemeinderat (22.04.1970): „Ist der Stadtrat insbesondere nicht auch der Meinung, dass sich ein Erwerb nur deswegen, weil Lenin während 14 Monaten in dieser Liegenschaft wohnte, nicht rechtfertigt und es falsch wäre, daraus eine Touristenattraktion machen zu wollen?“.

Heute hat die Geschichte das Haus Spiegelgasse 14 als „Touristenattraktion“ eingeholt. Die Benutzer der Räumlichkeiten werden von den Reisegruppen um Informationen bestürmt und dadurch auch bedrängt. Wie nun von den Eigentümern zu erfahren ist, möchte die Stadt Zürich mit ihnen zusammen aus Anlass des 150. Geburtstag von Lenin (22.11.1870) die Tafel am Haus mit ihren falschen Informationen entfernen und durch eine Informations-Stele auf dem kleinen Platz gegenüber der Häuserzeile ersetzen. Für die internationalen Gäste von Zürich ein Zeichen der Weltoffenheit dieser Stadt, in welcher einmal die Weltrevolution erdacht und auch erträumt worden ist.


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